Kompost I: Im Waldgarten

Am 19. März haben wir etwas Neues ausprobiert – eine Aktion, die nicht raus in den Wald führt, sondern in die Innenstadt, in den „Waldgarten“ des alternativen Wohnprojektes Spreefeld Berlin. Am Spreeufer unweit der Jannowitzbrücke, vor urbaner Kulisse (direkt gegenüber: die S- und Fernbahntrasse und das Klub- und Kulturquartier Holzmarkt 25) liegt der Spreeacker, der sich als „food forest“ oder „essbare Landschaft“ versteht. In einem solchen Waldgarten werden „Gemeinschaften“ aus Nutzbäumen und -sträuchern in urbane Communities integriert. Es geht nicht nur darum, das Stadtleben schöner zu gestalten, sondern in unsicheren Zeiten soll auch ein Beitrag zur autarken Ernährungssicherheit geleistet werden.

Mitgründer Michael La Fond erinnerte gleich bei seiner Einführung daran, dass diese Gegend einst vor den Toren der Stadt lag und aus Ackerland bestand. Auch an die Gründerzeit-Erfindung des Schrebergärtens knüpft der Waldgarten an, allerdings mit einer ganz anderen soziopolitischen Ausrichtung. Die Schrebergärten sollten zwar das Proletariat mit frischer Luft und frischer Ernährung versorgen – allerdings mit Hintergedanken, ging es doch darum, die Arbeiter für ihre langen Fabrikschichten fit zu halten. Dagegen stehen beim Waldgarten die selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebensentwurfes  und Umfeldes  im Mittelpunkt.

So reiht sich der Waldgarten in eine uralte Symbiose von Stadt und Natur, Mensch und Baum ein. Hier wachsen seltene Arten wie Schwarznuss oder Ölweide, oder alte, robuste Obstsorten, die über die Jahrtausende von Menschenhand gezüchtet worden sind. Sie sind also keine reine Naturwesen, sondern vielmehr enge Begleiter der Menschen, für die wir eine besondere Verantwortung tragen.

Eine der größten Herausforderungen des urban gardening, so Michael, stellt das ausgelaugte oder gar verseuchte Erdreich dar. Den reichhaltigen, komplex strukturierten Boden des Waldes sucht man in der Stadt meist umsonst – dieser muss erst herangeschafft oder aufgebaut werden.

So haben wir unter Michaels Anleitung vor allem am Komposthaufen gearbeitet, der aus den Biomüllresten des Wohnprojektes entsteht; das Endprodukt, den Humus, haben wir weggekarrt und um die Bäume verteilt.

Eine denkbar unpoetische Beschäftigung, könnte man meinen – doch ganz im Geiste der russischen Dichterin Anna Achmatowa, die 1940 schrieb:

Und wüßten Sie, wie ohne jeden Scham
Gedichte wachsen, und aus welchem Müll!
Wie durch das Zaunloch gelber Löwenzahn,
Wie Melde und Dill.

(Deutsch von Rainer Kirsch)

Und ganz im Sinne der amerikanischen Ökophilosophin Donna Haraway, in deren Denken der Kompost oder der Humus eine zentrale Rolle spielt:

Um unruhig zu bleiben, müssen wir uns auf eigensinnige Art verwandt machen. Das meint, dass wir einander in unerwarteten Kollaborationen und Kombinationen, in aktiven Kompostierungen brauchen. Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht. …
Die Gemeinschaften der Kompostisten entstanden im frühen 21. Jahrhundert überall auf der Welt, in und auf ruinierten Ländern und Gewässern. Sie gründeten sich in der Selbstverpflichtung, Responsabilität zu befördern und Praktiken der wechselseitigen Befähigung zu kultivieren. …
Terrapolis ist reich an Welt, geimpft gegen den Posthumanismus, aber reich an Kom-Post; geimpft gegen menschlichen Exzeptionalismus, aber reich an Humus, reif für das Erzählen von artenübergreifenden Geschichten. …
Mein Partner Rusten Hogness hat Kompost statt Posthuman(ismus) vorgeschlagen sowie Humusismen statt Humanismen; und ich bin in diesen wurmigen Haufen gesprungen. Das Humane als Humus hat Potenzial, wenn es gelingt, das Humane als Homo zu zerhacken und zu zerschreddern, dieses stagnierende Projekt eines sich selbst erzeugenden und den Planeten zerstörenden Unternehmers. …
Wir sind Kompost, nicht posthuman; wir bewohnen den Humusismus, nicht den Humanismus. Philosophisch wie materiell bin ich Kompostistin nicht Posthumanistin. Kritter – menschliche und nichtmenschliche – werden miteinander, komponieren und dekomponieren einander, in allen Maßstäben und Registern von Zeitlichkeit und Stofflichkeit; in sympoietischen Verwicklungen, in ökologisch-evolutionären-entwicklungsgeschichtlichen irdischen Verweltlichungen und Entweltlichungen.

Donna Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene, 2018)