Gedichte aus der Waldwerkstatt VI: Hanno Hartwig

Auch bei der diesjährigen Werkstatt „Wald pflanzen, Wald schreiben“ war Hanno Hartwig dabei, der nicht nur Baumdichter, sondern von Berufs wegen Baumsachverständiger ist. Wie er diese beiden Perspektiven verbindet, kann man unten in seinem Kurzessay „Zur Entstehung des Gedichtes“  nachlesen.

Perspektive

Hör auf dein Innerstes, Wald,
hör auf dein Herz,
das schlägt, weil es tief, weil es ganz
verborgen in deinen gewachsenen Erden
zu finden ist. Im Myzel, in den Fäden,
die die Pilze ziehen. Du redest,
du flüsterst, du sprichst aus deinen
Verschränkungen heraus. Du füllst dich,
du verlierst dich, du fällst und entstehst
aufs Neue. Du wächst und bleibst,
richtest dich nach dem Licht, nach dem
Bogen der Zeit, nach der Kühle
des Schattens, der das Geheimnis
deiner selbst ist. Nur der Mensch, wo ist
der Mensch, der erlauchte Zerstörer, der
Plastikproduzent, der alles um dich herum,
füllt und begräbt mit künstlichen Dingen?
Er ging vor geraumer Zeit, ging verloren,
denn du hast auf dein Innerstes gehört,
auf dein Herz, auf dein Leben, das schlägt,
weil es tief, weil es ganz verborgen
in deinen gewachsenen Erden zu finden ist.

Hanno Hartwig 14.3.2022

Zur Entstehung des Gedichts „Perspektive“ vom 14.3.2022.

Das Gedicht ist das Ergebnis des Workshops: „Wald pflanzen / Wald schreiben“

Vier Aufgabenstellungen waren vorgeschlagen, und ich habe mir die vierte herausgenommen. Dort wurde angeregt, ein gewisses Maß an Allgemeinwissen, Poesie, Mythologie, ökologischer und botanischer Forschung einfließen zu lassen. Auch wurde angeregt, die archetypische Bedeutung von Wald mit romantischen Bildern zu verknüpfen. Es sollte der Versuch gestartet werden ganz unterschiedliche und gegensätzliche Aspekte in Stellung zu bringen. Sofort kam mir in den Sinn, wie es wäre, wenn ich vom Standpunkt eines aktiven Beobachters einen Wald der Zukunft beschreibe, in dem der Mensch keine Rolle mehr spielt. Bäume haben seit meiner Kindheit eine zentrale Bedeutung für mich. Nach dem Erlernen des Landschaftsgärtnerberufes und dem anschließendem Gartenbaustudium, habe ich mich durch das weiterführende Teilgebietsstudium der Baummechanik, bei Prof. Mattheck, zum Baumsachverständigen ausbilden lassen, und alles was mit Bäumen und Wald zusammenhängt ist mir, seitdem, mehr als wohlvertraut.

Des Weiteren möchte ich noch sagen, dass ich Asperger-Autist bin und typischer Weise über eine Inselbegabung verfüge, die es mir ermöglicht Gedichte aus dem Stehgreif zu produzieren, weshalb ich nie lange über Stil, Form, Fügung oder Formulierungen nachdenken muss, sondern sich diese in kürzester Zeit von selbst ergeben. So war es auch bei diesem Gedicht.

Die erste Strophe

Hör auf dein Innerstes, Wald,
hör auf dein Herz,
das schlägt, weil es tief, weil es ganz
verborgen in deinen gewachsenen Erden
zu finden ist.

war ohne Nachzudenken sofort da, und wie bei einer nebenher laufenden Tonspur, dachte ich an die Dinge, die der Förster Peter Wohlleben in seinem Buch über den Wald geschrieben hat, nämlich, dass wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass die allgegenwärtige Mykorrhiza im Boden, die sich symbiotisch mit den Wurzeln der Bäume verbindet, als Wood-Net anzusehen ist, ähnlich dem Internet, also schrieb ich:

Im Myzel, in den Fäden,
die die Pilze ziehen.

Mit dieser Einleitung habe ich mein Gedicht positioniert, es quasi auf Spur gebracht. Als logische Fortführung habe ich dann, meinem Denken entsprechend,

…Du redest,
du flüsterst, du sprichst aus deinen
Verschränkungen heraus. Du füllst dich,
du verlierst dich, du fällst und entstehst
aufs Neue. Du wächst und bleibst,
richtest dich nach dem Licht, nach dem
Bogen der Zeit, nach der Kühle
des Schattens, der das Geheimnis
deiner selbst ist.

eine These aufgestellt. Zudem ist die Formulierung: „…du sprichst aus deinen/Verschränkungen heraus…“ wissenschaftlich begründet. Denn die Verbindung zwischen Stamm und Ast besteht aus verschränkten Holzstrahlen, die sich schleifenartig übereinanderlegen, wodurch sich zwar eine feste Klebeverbindung ergibt, die mit dem Stammholz aber nicht tief verbunden ist. Dadurch kann bei Bedarf eine Trennung vom Ast, von Seiten des Stammes, im Laufe des Baumlebens, möglich sein. Die Formulierungen „Bogen der Zeit“ und „Kühle des Schattens“ sind meinem inneren Denken, meiner romantischen Keimzelle geschuldet. Der Bogen beschreibt einesteils die Jahreszeiten, als auch den Lebenszyklus eines Baumes. Die Kühle des Schattens ist das Klima, dass der Wald sich selber schafft, als „Geheimnis seiner selbst.“ Es ist typisch für mich, dass ich diese „Gedankenverschränkungen“ ohne bewusstes Nachdenken schreibe. Die anschließende Strophe,

Nur der Mensch, wo ist
der Mensch, der erlauchte Zerstörer, der
Plastikproduzent, der alles um dich herum,
füllt und begräbt mit künstlichen Dingen?

ist die Antithese. Über die Begriffe „Plastikproduzent“ und „erlauchter Zerstörer“ musste ich nicht lange nachdenken, sie waren da. / Mit der Formulierung: „…der alles um dich herum/füllt und begräbt mit künstlichen Dingen…“, überlagern sich Zeitperspektiven. Etwas, das für mein Schreiben ebenfalls typisch ist. Das Gedicht endet als Antwort auf die Frage nach dem Menschen, und ist gleichzeitig die Synthese des Gedichts:

Er ging vor geraumer Zeit, ging verloren,
denn du hast auf dein Innerstes gehört,
auf dein Herz, auf dein Leben, das schlägt,
weil es tief, weil es ganz verborgen
in deinen gewachsenen Erden zu finden ist.

Mit dieser Strophe, die einen Teil der Einleitung wiederholt, ist das Gedicht in sich geschlossen.

Hanno Hartwig (in der Nacht des 19.3.2022 geschrieben)
___________________
Dies ist seit meiner Kindheit die Art wie ich Gedichte schreibe, und da ich lyrisch denke, und aus dem Stehgreif heraus Gedichte schreiben kann, sollte es von mir doch mannigfache Gedichtbände geben, die die Regale füllen. Das ist aber nicht der Fall. Wenn man mich nach dem Grund fragt muss ich sagen, dass mein Autismus mich daran gehindert hat, mich aus meinem inneren Kokon zu befreien. Nur ganz langsam, es war ein mühsamer Prozess, habe ich Vertrauen zu mir selbst und meinem „lyrischen Ich“ entwickeln können, wurde aber immer wieder durch äußere Umstände zurückgeworfen. Erst als ich mich im Haus für Poesie bei Karla Montasser 2018 vorstellte ging es aufwärts, denn sie erkannte sowohl meine Begabung, als auch meine psychische Disposition, und wusste beides zu nehmen. Allerdings, und dies nur als Ergänzung zu meiner literarischen Biographie, wurde ich Anfang der 90er Jahre Mitglied der NGL, und konnte den bekannten Dichter Dieter Straub als Mentor gewinnen. Aus dieser Zeit heraus habe ich mit meinem ersten Gedichtband „Helle Fenster“, den es auch heute noch auf dem Markt gibt, debütiert. Doch als die NGL 2003 aufgelöst wurde, war ich wieder der einsame Dichter der tagsüber seinen beruflichen und familiären Verpflichtungen nachging, und nachts schrieb. Ergänzend möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich seit der NGL Michael Speier kenne, der ein guter Freund von Dieter Straub war. Noch heute pflegt er mit mir einen freundschaftlich wohlwollenden Austausch und schrieb mir in einer Mail zu meinem ersten Gedichtband: „…ich habe doch immer wieder in Ihrem Gedichtband gelesen. Ich finde es toll, wenn man sich -wie Sie– Stil und Haltung über die Jahre und Moden bewahrt. Dazu ist viel Haltbares in den Texten.“ [In der Zwischenzeit habe ich wieder ein fertiges Manuskript, das einen Verleger sucht, und arbeite bereits an einem nächsten.]

Kurzbiografie Hanno Hartwig

1957 in Kassel geboren, wohne seit 1963 in Berlin bis heute.
Beruf Landschaftsgärtner, danach Gartenbaustudium
Dann öffentlicher Dienst bis heute. Seit 2003 amtlicher Baumsachverständiger.
Schreibe seit meinem 11. Lebensjahr.
Buchveröffentlichung: Helle Fenster 1. u. 2. Auflage
Nikolaus-Lenau-Lyrikpreis am 26.9.2020
Mitglied in mehreren Literaturvereinen.