Ein Wust aus Traubenkirsche

Spätblühende Traubenkirsche (Prunus serotina)

Wüstemark – ein guter Ort, ein gutes Wort für den Anfang. Und die Erde war wüst und leer.

Wüst-Namen gibt es so einige in der Mark, sie erinnern an aufgegebene Siedlungen, an die Verwüstungen des 30-Jährigen Krieges, an die Pest-Epidemien oder andere Umwälzungen. Die Siedlung, die vor langer Zeit hier stand, hieß Gerhardsdorf oder Gersdorf. Auf der Webseite der Gemeinde Zeuthen heißt es:

Im 15. Jahrhundert setzte ein Wüstungsprozess ein, dessen Ursachen mannigfaltig waren: Fehler bei der Dorfgründung, klimatisch bedingte Missernten, Krankheiten, kriegerische Auseinandersetzungen und andere Plagen, aber auch das Bauernlegen konnte zur Wüstung führen, denn manche Ritter oder Gutsherren jagten die Bauern auf und davon und nahmen sich deren Land.

Einer dieser Gründe traf wohl auch auf Gerhardsdorp zu. In Miersdorf blieben nur vier Bauern und drei Kossäten übrig. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde Zeuthen bis auf einen Hof zerstört […]

Später ließ der König (aus Königs Wusterhausen) sich hier einen Jagdforst anlegen. Um welchen König es sich handelte, habe ich versäumt, Revierförster Stephan Parsiegla zu fragen, außerdem gefällt mir das Ungefähre-Märchenhafte. Stephan erzählt weiter von seinem Wald, in dessen Humus sich viel Geschichte versteckt, zu der auch wir nun beitragen dürfen.

Die Spätblühende Traubenkirsche (prunus serotina), in Nordamerika heimisch, wurde im 17. Jahrhundert als Zierpflanze eingeführt, im 19. Jahrhundert gezielt als Nutzholz angepflanzt, auch deshalb, weil sie den Boden mit Humus anreichert. „Aber die Geister, die man rief, wurde man nicht los“, sagt Stephan. Anders als in Nordamerika, wo die Traubenkirsche sich zum großen Baum mit wertvollem Holz auswächst, bleibt sie hier klein und mickrig, eignet sich nicht zum Holzlieferanten. Stattdessen wuchert sie, bildet eine dichte Strauchschicht, die andere Baum- und Pflanzarten verdrängt und die Entwicklung hin zu biodiversen (und damit klimastabileren) Wald verhindert. Inzwischen gilt sie unter Forstleuten als unbedingt zu bekämpfende „invasive Neophyt“.

Sie wurzelt zäh im Waldboden. Man muss sie an den Wurzeln ausreißen – schneidet sie nur oder sägt man sie ab, treibt sie um so energischer aus (es sei denn, man stülpt eine Tüte über den Stumpfen, dann bilden sich Pilze und töten den Rest ab). Kleine lebensfreudige Bäumchen ausreißen … dazu muss man sich zunächst überwinden. Schließlich können sie nichts dafür, dass diese seltsame Spezies Mensch sie hierher verfrachtet hat, um es sich nach wenigen Generationen anders zu überlegen.

Der Sinn der Aufgabe wird greifbar, lenkt man den Blick auf die anderen Bäume. Zunächst auf die Fichten, die als Monokultur diese Waldfläche prägen, leider aber schwer angegriffen sind – überall sieht man die braunen Kronen der abgestorbenen Bäume. Die meisten sind Opfer der letzten Hitzesommer. Der Borkenkäfer sitzt drin. Gesunde Bäume können ihn abwehren, sondern Harz ab, um die Käfer zu töten. Diese Fichten sind wehrlos, leiden an Hitzestress und Wassermangel. Auch wenn dieser Sommer zum Glück relativ regenreich war: Der Regen ist nicht tief in den Boden gedrungen, das Grundwasser hat sich noch nicht nachhaltig regenerieren können.

Auch deshalb gilt hier wie vielerorts das Stichwort „Waldumbau“: Nach und nach soll aus der anfälligen Fichtenmonokultur ein Laubmischwald entstehen, artenreicher, stabiler und hitzebeständiger. Zum einen sollen die vorhandenen Buchenbeständen des Wüstemarker Forsts sich weiter durchsetzen. Vom Standort her dürften hier eigentlich keine Buchen wachsen, erzählt Stephan. Es sei zu trocken, der Boden stimme nicht. Aber sie wachsen trotzdem. Also richtet man sich nach dem Beispiel der Natur und setzt Buchen zwischen den schwächelnden Fichten. Auch Wüstemarker Eichen sollen sich in den Fichtenflächen ausbreiten. Vor einigen Jahren hat Stephan Eichen hier angepflanzt, wegen der andauernden Trockenheit trieben sie nicht aus, er hatte sie längst aufgegeben. Jetzt sind sie doch noch gekommen. Und Robinien dürfen sich aussäen – sie sind zwar auch nicht heimisch, aber bessere Teamplayer, als die Traubenkirsche.

Die Traubenkirsche soll nicht ganz und gar verschwinden, es geht nur darum, ein dynamisches Gleichgewicht zu erreichen, bei dem viele verschiedene Arten ihre Nische finden können. Entfernt man das wuchernde Gesträuch der prunus serotina, kommen die anderen Bäumchen ans Licht – kleine Buchen und Eichen, kaum 20 Zentimeter groß, jeweils mit drei, vier Blättern. Diese Baumarten wachsen viel langsamer, die Eiche schickt erst einmal ihre Pfahlwurzel in die Tiefe. Damit sie sich behaupten können, muss man ihnen in der ersten Zeit mehr Freiraum und Licht schaffen.

Bei der Forstarbeit geht es immer wieder um feine Details und nuancierte Abwägungen. Viel Wissen und Erfahrung ist gefragt, der Aufwand ist enorm. In Brandenburg kommen erschwerend die Altlasten der Vergangenheit hinzu. Überall steckt der Waldboden voller Munitionen, von den Übungsplätzen der NVA oder noch vom 2. Weltkrieg – Stephan zeigt auf einen Bombentrichter auf der anderen Seite des Forstwegs. Auf dieser Fläche sind die Munitionen immerhin längst geräumt worden. Aber andernorts erschweren sie noch die Waldarbeit sowie – in verheerender Weise – die Bekämpfung von Waldbränden.

Es ist kaum zu fassen – längst ist der Zustand des Waldes in aller Munde, längst überbieten sich auch die letzten Politiker mit hippen Ökolösungen und schicken Umwelttechnologien, aber die so grundlegende Arbeit der Forstleute bleibt ungewürdigt und unterfinanziert. Jahrzehntelang wurde der Wald buchstäblich totgespart. „Nach 30 Jahren Stellenabbau und dem Verlust von 60 Prozent des Forstpersonals braucht Deutschland 10.000 mehr Forstleute für den Wald“ forderte der Bund deutscher Forstleute 2019. Nachwuchs gäbe es durchaus, meint Stephan, die Nachfrage an Praktikumsplätzen bei ihm ist groß, auch interessieren sich immer mehr Frauen für den Beruf.

Das gern bemühte Wort „Nachhaltigkeit“ ist ein Begriff aus der Forstwirtschaft: Eine Generation pflanzt und pflegt den Wald für die nächste. Dieser Generationenvertrag, sagt Stephan ernst, ist in unserer Zeit offenbar gekündigt worden.

Immerhin können auch Laien wie wir einige Arbeiten übernehmen und somit einen kleinen Beitrag zum Erhalt der Wälder leisten – Lebensgrundlage nicht nur der nächsten Generation, sondern schon für unsere Existenz notwendig.

Mit ihrem zähen, weitläufigen Wurzelgeflecht erinnert die Traubenkirsche daran, wie komplex die geschichtlichen wie ökologischen Zusammenhänge sind und wie wichtig es ist, die Folgen des eigenen Handelns zu überprüfen und notfalls zu korrigieren. Man kann Fehler machen, die Zeit wird zeigen, was richtig war. Gerade deshalb muss man dranbleiben.